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    Eröffnungsrede zur Ausstellung "Von ferne ins Vergangene - Gänge am Grindel mit Arie Goral"
in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky

 

Von ferne ins Vergangene
Topologien der Erinnerung bei Arie Goral
Von Thomas Dörr

Als der Nachlaß Arie Goral-Sternheims vor nun bald vier Jahren ins Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung gelangte, bestand er zunächst aus nichts anderem als in rund 120 Kartons verpackten Papierbergen, wie sie im Laufe der Jahre in seiner Wohnung in Regalen, auf Möbeln und vor allem auf dem Boden angewachsen waren.
Dort hatte er abgelegt, was ihn beschäftigte und woran er arbeitete, was ihn umtrieb, ihm der Dokumentierung und der Erinnerung wert schien, auch was ihm geschenkt und geschickt worden war, um es seinem Materialfundus und seinen teils wertvollen Dokumentensammlungen einzuverleiben.
Dabei hatte er in dem Sinne nichts "weggelegt", geschweige denn "wegsortiert", sondern im Gegenteil die sich anhäufenden Manuskriptkonvolute, Artikel und Broschüren ihrerseits als neue Unterlage genommen, um darauf aktuellere Arbeitsvorgänge sich breit auslegen und vor Augen führen zu können.
Das heißt, er nutzte die Materialstapel um seinen Arbeitsplatz herum quasi als Tische und ließ nach Beendigung eines Projekts alle Materialien offen auf ihnen liegen.
Das führte dann dazu, daß die Vorarbeiten zu einem Vortrag beispielsweise nicht auf einem Stapel beieinander lagen, sondern über vier, fünf, sechs benachbarte ausgebreitet worden waren, um nach Abschluß des jeweiligen Vorhabens bald ihrerseits mit neuen Materialien überschichtet und überbaut zu werden.

Anfangs stellte dieses Verfahren uns im Archiv, die wir Blatt für Blatt abtrugen, vor nicht geringe Schwierigkeiten, da wir uns zunächst keinen Reim darauf machen konnten, wieso ein wichtiger Text nach drei Seiten, in einem Stapel vorgefunden, abbrach, um Tage der Suche darauf in einem anderen – allerdings auf sozusagen gleichschichtiger Höhe – seine Fortsetzung zu finden. Die Texte lagen in der gleichen Schicht, aber in verschiedenen Stapeln.
Man musste also darauf gefasst sein, auch vom – tatsächlich doch – abwesenden Autor noch nur von Zeit zu Zeit und nach seinem Gutdünken Einblick in seine Produktion zu bekommen.
So fing er nicht nur auf dem Papier, sondern buchstäblich in und zwischen dem Papier wieder an zu leben.

Hinzu kam, daß Gorals Arbeitsplatz in der Wohnung wanderte, er also, wenn ein Schreibtisch "fertig" war, zu einer anderen Stelle zog und – unter Mitnahme der aktuellsten am alten Tisch vorfindlichen Fragmente – einen neuen "aufmachte": mitsamt neuer Schreibmaschine und neuem Handapparat an Büchern. Die alte Maschine blieb, wo sie war, Türme von Manuskripten auf Gehäuse und Tastatur. Manche, die das gesehen haben, haben gewünscht, daß man dieses Ensemble insgesamt – inklusive rund 50 Regalmeter Bücher und 1.500 Bildern von ihm – bewahren und unter Schutz hätte stellen können.

Denn auf diese Weise hatte sich in seinen Materialien und quer durch seinen Wohn- und Lebensraum eine Art von Sedimentierung ergeben, Schichtungen und Ablagerungen also, wie in von Naturkräften bewegtem Gestein, nur daß hier nicht Naturkräfte – auch nicht Kräfte der Geschichte, wenn es sie denn gibt – sondern solche der Arbeit an der Geschichte am Werk gewesen waren.

Deren Sedimentierungen, also Ablagerungen, Verschiebungen, auch Brüche und Verkantungen – oft unter großem Druck – waren also für Goral durchaus nicht nur "Thema" und immer wieder neu aufgegriffener "Gegenstand" seiner vielfältigen Bemühungen, sondern diese Sedimentierungen waren ihm ebensosehr Arbeitsprinzip und damit eigentliches Element seiner Erinnerung, einer Erinnerung, deren materiale Konfiguration ihn auf diese Weise buchstäblich alltäglich umgab.

So sprach gerade der zunächst ungeordnet erscheinende Nachlass klar davon, was die rekapitulierende Rede von der "notwendigen Erinnerung" immer auch meint, aber nie ganz einholen kann: daß Erinnerungs- und Alltagsarbeit eins werden.

Arie Goral jedenfalls war dieses Einswerden von Erinnern und Alltag vitales Arbeits- und Lebensprinzip. Er schichtete ebenso viele Blätter um und beschrieb neue, entwickelte ständig neue Perspektiven und Blickwinkel auf die in ihm jedenfalls nicht zur Ruhe kommende Katastrophe, wie er nach aussen hin als unnachgiebiger und manchen lästiger Frager in Erscheinung trat.
Das war seine Art und Weise zu fragen, wie man in Erinnerung an das Unbegreifliche der Vernichtung alltäglich noch praktizieren kann; und so praktizierte er selber, wonach er fragte:
insistent wie ruhelos grabend, beharrlich wie nachdrücklich erinnernd.
Sein ganzes Selbstverständnis ist von dieser Frage nach der Praxis umgetrieben, seine Identität nachgerade von der Frage nach der nächst- und bestmöglichen Aktion bestimmt.

"Wer, wenn nicht ich, wann, wenn nicht jetzt?" war sein Lebensmotto.

Arie Goral selbst ist sich dieses Zusammenhangs von material handfester Erinnerungsarbeit und uneinholbarem Verlust, der immer neue Anläufe und Umwege fordert, bewußt gewesen. Er ist sich auch dessen bewußt gewesen, dass auf diesen Umwegen andere Stimmen als nur die eigene zu hören sind und mitsprechen. Er hat sich deshalb nicht zum Fürsprecher, sondern – ohne jeden Beigeschmack von Pathos – zum Medium derer gemacht, die keine Stimme mehr haben. In seinem Erinnerungsband "Jeckepotz" schreibt er im Bemühen des Zentrums und Anfangs seiner Bilder vom alten Grindel inne zu werden:
"Ich gestehe, ich bin auf Umwegen zu dieser Mischpoche Silberberg-Keitel (einer Familie vom Grindel, TD) gekommen. Ich wollte meine Geschichte vom Grindel ganz anders beginnen. Ich hatte einen prächtigen Anfang: mit der Synagoge, mit dem Rabbi Carlebach, und mit frommen Juden, die wie Geister aus verlorenen und verlassenen heimatlichen Schtetl in Kaftan und Stremel über den Grindel in ihre Schul eilten oder vom Gebet kamen.
(Aber:) Ich habe den Anfang verlegt. Er verlor sich im Wust der Papiere und Skripte.
(...) die verlegten Manuskripte haben es so gewollt, nun stehen sie, die Vergessenen, stellvertretend für die vielen Vergessenen, auch für die Nebbuchanten (jidd. Habenichtse) vom Grindel, am Anfang meiner Geschichte." 1

– "die verlegten Manuskripte haben es so gewollt, ..." – es gibt keine einfache und gradlinige Erinnerung mehr, der Weg zu den Vergessenen ist ein, freilich immer wieder notwendiges, Innehalten zum Umweg – kein frommer Jude eilt mehr wie früher "geradewegs" im Kaftan über den Grindel.

Am Anfang seiner Geschichte, dem erwähnten Erinnerungsband Jeckepotz nämlich, steht freilich auch so etwas wie die drastischere Version dessen, was manchem in diesem Kontext vielleicht als zu idyllisierend und quasi "gedenk-bibliophil" daherkommen mag – wo nicht mehr vom Verlegen und Verlust von Papieren, von umgestapelten Manuskripten und verlorener Erinnerung allein die Rede ist, sondern wo es biographisch-politisch konkreter heißt:

"Der 24jährige, der 1933 Deutschland verließ, nahm mit dem Abschied von seiner Heimat auch Abschied von seiner Kindheit und Jugend, ließ sie und alles und alle im anbrechenden Chaos zurück. Da lebt auch keiner mehr, den man aus liebendem Vertrauen fragen könnte:
Hilf mir, wie war das? (...) Es bleibt keine Wahl, ich spreche mit den Stimmen der Verstummten, mit den Stimmen der Erstickten, mit den Stimmen der in Viehwaggons im Ratatat des dahinrollenden Zuges Verröchelnden, ich spreche mit der Stimme von Mutter, von Onkel Max, von Tante Ida, mit der Stimme Großmutters, die mit 94 Jahren den Todeszug bestieg, aus dieser Stadt vertrieben wurde, in der ich jetzt lebe, ich stammle mit deren Stimmen, weil ich nicht schreien kann und will und mag mit ihren Stimmen und in ihrem Namen. Wer würde schon hören, in dieser im Moder der Vergessenen und des Vergessens nebligen Stadt?
Was bleibt, das sind Splitter aus dem großen Gewirr: Schädelsplitter, Knochensplitter, Gedärmfetzen, Hirnspritzer, Scherben und Fetzen, Gedankensplitter, Fragmente des verlorenen, zusammengekitteten Ichs. Da finde nun einer die chronologische Ordnung und erzähle schön sortiert und der Reihe nach." 2
Diese, wenn überhaupt eine Ordnung, findet angesichts und eingedenk der eben geschilderten Reihung niemand; auch eine Ausstellung kann nur eine groben Eindruck davon geben.
"Fragmente des verlorenen, zusammengekitteten Ichs" treten an die Stelle dessen, was gemeinhin und gutbürgerlich Identität heißt. Auf einem zunächst getippten, dann handschriftlich bearbeiteten Blatt, das sich in seinem Nachlass findet, formuliert Goral:

"Ich habe nie von Identität gesprochen, von der Suche nach dieser Identität. Die Barrieren und Schwierigkeiten beginnen bereits bei meinem Namen. In Israel nahm ich den hebräischen Namen Goral an, Goral heißt Schicksal. Bei der Wahl entschied mehr Brahms als mein Schicksal. Eines Tages wurde beim Malen im Rundfunk das Schicksalslied von Brahms übertragen. Auf hebräisch schir hagoral. So kam ich zu meinem Namen.
(Und er setzt hinzu:) (...) hat sich was mit Identität, das Problem beginnt schon beim Namen." 3

Der Name Arie Goral also ebenso ein Kunst- wie ein Kampfname, zugelegt, um abgelegt werden zu können, Siegel der ewigen Exilsituation selbst im Zuhause der eigenen nominellen Identität, eine Variable, deren Elemente er im Alter um die Bestandteile ergänzte, die ihm in der Jugend eigen gewesen waren: Walter Lovis Arie Sternheim Goral steht im Kopf der Briefbögen, die er in den letzten Lebensjahren benutzte.

Artikel von ihm sind unterzeichnet mit Arie Goral, Arie Goral-Sternheim oder Sternheim-Goral, Leserbriefe mit Walter Sternheim, sein erster publizierter Text von 1928 mit Arie Sternheim, seine letzten in der "Jüdischen Allgemeinen" mit "Kochawi", – "Stern", eine Hebraisierung der ersten Silbe seines Nachnamens "Sternheim"; andere aber auch vollends mit Pseudonymen wie Ben Adam, Moritz Bernstein, Siegfried Abraham oder auch Adam Loewe, wobei sein zweiter Vorname "Lovis", der "Löwe", nachmalig auch "Arie", hebräisch auch "der Löwe", zum Nachnamen wurde. Ein Verwirr- und Wechselspiel, wie man so sagt? Kaum – eher: – Lieber hundertmal signieren als einmal resignieren, und am besten noch hundertmal verschieden.
So wie er auf diese Weise durch das Vertauschen der kleinsten Zeichen, der Worte und der Buchstaben nämlich, Zeichen gesetzt hat, bestand sein vielzitiertes Warnen und Mahnen nicht nur darin, ein ebensoviel zitiertes "Sehet die Zeichen" zu verkünden oder ein moralisches "Aufgepaßt, da entwickelt sich was rechts," in die Welt zu posaunen, sondern darin, in einer auch seinen linken Weggenossen oft unnachvollziehbaren Weise bei der Deutung und Ausdeutung solcher Zeichen rigoros zu sein. Seine Analysen waren dabei weder höflich noch ausgewogen, immer aber einzigartig und eine latente politische Situation oft konkreter bezeichnend als jedes im Jargon der Tagespolitik verfaßte Urteil es könnte.

Das heißt nicht, dass er nicht konkret war, wo es not tat, auch darin ließ er sich in seiner Drastik von kaum jemandem etwas vormachen. Es heißt aber, dass er subtil war in einer Weise, die quer manchmal selbst zu aller gebotenen Vernünftigkeit am Rande des Kommunizierbaren lag. So aber konnte er besser sagen, woher seinem Empfinden nach, und darum geht es, die Kraft destruktiver Massenphänomenen, die er am eigenen Leibe erfahren hatte, sich speist.

Ein Beispiel: Auf den Rand der Titelseite einer Zeitung kritzelte er einmal – wie immer auch spontan motiviert – auf dem Höhepunkt der Anti-AKW-Demonstrationen Anfang der 80er Jahre folgende Gelegenheitsnotiz:

"AKW nee (Pfeil -) "Synagoge".




Das bedeutet: in dem ihn, Arie Goral, häufig beschäftigenden Kontext "Antisemitismus der Linken" speist sich die Emphase der "AKW-nee Rufer" und insbesondere der Plakettenträger (der Aufkleber, der Plakate) mit nämlich dem durchgestrichenen Emblem "Atommeiler" aus dem Impuls gegen die Kuppel der jüdischen Synagoge und ist also eigentlich, wenngleich ganz anders ausgerichtet, ein sich Bahn brechender Antisemitismus.

So schießen dem sich Erinnernden die Zeichen zusammen: Eine Masse stürmt mit Vehemenz gegen eine Kuppel, gegen eine Form mithin, die in Deutschland ihm und den meist bedrohten Individuen seiner Gruppe Individualität und Identität immer verbürgt hatte. So las er die Zeichen, und so warnte er, wo andere "beim besten Willen" noch nichts Bedrohliches sahen, er aber die Erfahrung gemacht hatte, daß die Insistenz dieses "besten Willens" die Elterngeneration und viele der Seinen das Leben gekostet hatte.

Natürlich ist das ungerecht, natürlich ist das übertrieben, und nicht wenige werden vielleicht sagen, das sei doch unmöglich, so etwas könne man doch nicht sagen. Jemandem aber, der schon einmal erleben musste, wie das von den meisten für unmöglich gehaltete erst Möglichkeit und dann Wirklichkeit wurde, muss man zumindest zubilligen, mit einer solchen Lesart so etwas wie einen sehr subtilen Analysemodus nahezulegen; eine Art und Weise der Aufmerksamkeit, die quer selbst zu aller "Wahrscheinlichkeit" latent irrationale Potentiale aufspürt. Das zumal, wenn es zum anderen sicher auch provokante Absicht war, durch Zerstreuung und Verkehrung der Sachbezüge Latenz und Macht variierbarer Symboliken offenzulegen.

Die Warburg-Schule würde hier von einer "ikonographischen Analogie" sprechen, und es ist sicher mehr als eine Fußnote, wenn man vermerkt, daß der junge Walter Sternheim als seine prägenden Einflüsse in den 20er Jahren die Studien in der Warburg-Bibliothek in der Heilwigstraße angibt. Immerhin auch hat er an der hiesigen Universität zu eben der Zeit Vorlesungen bei dem renommierten Kunsthistoriker Panofsky, Mitarbeiter Aby Warburgs, gehört. Es steht also zu vermuten, daß er wußte, was er tut – dieser Bezug ist, sowenig wie das Verfahren, Zufall.

Viele seiner zahllosen Selbstreflexionen umkreisen das Thema der variierbaren Symboliken und ihrer "Bemächtigung" durch Sinn. Goral mobilisiert damit auch so etwas wie psychoanalytische Aspekte einer gebotenen anderen Erinnerungskultur, wenn er Zeichen der Gegenwart im Licht vergangener Erlebnisse zu begreifen versucht, um dort, wo eine katastrophale Zerstörung fast nichts mehr gelassen hat, überhaupt wieder leben und agieren zu können. Er hat das gekonnt, aber nur nach und vermittels dieser permanenten selbstreflexiven Durchgänge, die sich – und vor allem den anderen – nichts ersparten.

Nicht zuletzt schließlich ist dieses Vermengen, Zersetzen und Remontieren von Erlebtem und symbolischen Versatzstücken ein legitimes Verfahren – jedweder Kunst nämlich.
Darin auch besteht, so denke ich, jenseits von irgentwelchen Manifestationen und Proklamationen die Verbindung zwischen seiner Kunst und seiner Politik, seiner Art und Weise der Erinnerung und der ihr gemäßen – oder auch nicht gemäßen – Form des Protests.
In dieser Verbindung von Kunst und Politik, von künstlerischer Praxis und von praktischem Künstlertum, begriff er seine Verantwortung.

Die Vehemenz, mit der er ihr gerecht zu werden versuchte, verglich er selber gelegentlich mit der Wirkung zweier großer Kunstfiguren wie Don Quichotte und Michael Kohlhaas, dem Gerechtigkeitsfanatiker und dem Reiter gegen Windmühlen. So schreibt er 1979 in einem Sammelband zum Thema "Juden in der Bundesrepublik" unter dem Titel "Ich bin Jude, also bin ich":

"Ich lebe mein Judesein in Deutschland in einer auch mir selbst oft lästig werdenden Protesthaltung. Ich besitze genügend Selbstironie und -kritik, um zu spüren, wie diese Haltung bisweilen nicht ohne Tragikomik ist, wenn sie nicht gar dann und wann an der Grenze des Grotesken steht. Die Übergänge, ich weiss es, sind fliessend.
Dem Don Quichotte und Michael Kohlhaas in mir gesellt sich der hinzu, den ich Siegfried Jeckepotz nenne, der von seinem Judesein nicht wegwill und sein "gelobtes Land" Deutschland nie erreicht." 4

Deutschland nennt der ironisch sein "gelobtes Land", der in ihm in den 20er Jahren den besten und lebendigsten Teil seiner Jugend in der jüdischen Jugendbewegung und hier am Grindel verlebte. Einer Jugendbewegung, die von ihrem wirklichen "gelobten Land" nicht nur träumte, sondern sich durch landwirtschaftliche Schulung auf die Auswanderung vorbereitete und schließlich auch Ernst mit ihr machte. Ernst machen mußte, um aus der "Heimat" vertrieben in der Heimat Palästina anzukommen, die nach der Erfahrung der Vertreibung freilich nie ganz eine sein konnte. "Meine Heimat, mein Exil" notiert Goral so prosaisch wie vieldeutig auf ein Notizblatt, da er aus der Heimat des notwendigen Exils ins Exil der Heimat zurückkehrt, ohne, wie er selbst immer wieder betont, je anzukommen.

Von ferne ins Vergangene gekommen, trifft er niemanden mehr an, den er, wie er selber sagt, "in liebendem Vertrauen fragen könnte, – hilf mir, wie war das damals." Wenn er heute über den Grindel gehe, so schrieb Arie Goral-Sternheim in seinem Erinnerungsband "Jeckepotz", sei er auf der Suche nach etwas, von dem er wisse, daß es unauffindbar bleibt. "Wir alle," so präzisiert er paradox, "sind nicht mehr da": 5 dieses wiedergängerische Motiv, das ihn seit seiner Rückkehr nach Hamburg umgetrieben hat, markiert dennoch gerade die Insistenz seiner Wirkung in der Stadt und bestimmt die Gestalt, als die er den meisten vor Augen geblieben ist.
Die Topographie dieses ehemals jüdischen Viertels, in dem Arie Goral in den 20er Jahren wie von den 50er bis in die 90er wirkte, blieb für ihn durch die Unmöglichkeit einer Rückkehr geprägt, deren Notwendigkeit er sich erinnernd dennoch immer wieder konfliktreich vergegenwärtigte. So ist die gegliederte Geschichte seiner Biographie auch eine Geschichte des Ortes und seiner Zerstörung, die sich ihr eingeschrieben hat. Sie darzustellen, verschränkt die Geschichte seiner Rückkehr mit den Erfahrungen des Exils, als dessen Wiederauflage er schließlich sein Tun an den ihm entfremdeten Stätten seiner Jugend empfand.
Von diesen zeigt die Ausstellung:
Eine Karte des alten Grindel mit Bildern von wunderschönen Strassenzügen und eine Karte des neuen mit Bildern von meist Straßenschildern.
Die prächtigen Fassaden zweier Synagogen, die keine 150 Meter auseinanderlagen und vom vitalen sozialen Umfeld der verschiedenen jüdischen Gruppen einen Eindruck geben, und das weggeplante Gelände der ehemaligen Beneckestraße, über dessen Neubauplänen mit erhobenem Stock Karl Schiller, damals Rektor der hiesigen Universität, Perspektiven für die Neubebauung demonstriert: vor ihm und den Planern die Bauten, die sich uns heute zur vertrauten Silhouette des Univiertels gruppieren. Seinen ersten Gang durch den Grindel nach dem Krieg rekapitulierend schrieb Arie Goral:
"Wir Juden, die einst das Leben und das Gesicht dieses Stadtbezirks prägten, wir alle sind nicht mehr da. Auch ich, der ich wiederkam, bin nicht da und nicht hier, gehöre nicht mehr dazu.
1953 ging ich das erste Mal wieder die Grindelallee entlang. Ich erinnerte mich zuerst an das Café Timpe, dann an das Kino nebenan, die Kammer-Lichtspiele. An der Ecke war das frühere Wilhelm-Gymnasium. Jetzt ist es der Altbau der Universitätsbibliothek. In der Aula fanden Parteiversammlungen, auch von jüdischen Parteien vor Gemeindewahlen, statt.
Gegenüber in der Kellerkneipe "Schinkenkrug" residierte ein berüchtigter SA-Sturm, der den Grindel terrorisierte und auf Juden spätabends Jagd machte. Ich erinnere mich an eine Versammlung der SPD, auf der mein Onkel, der Finanzsenator Max Mendel, und der Polizeipräsident Adolf Schönfelder sprachen. Als Vertreter eines sozialistisch-zionistischen Jugendbundes sprach ich in der Diskussion. Es kam zu einem wüsten Lärm und Tumult, als ich gegen Kommunistenhetze protestierte und für eine Einheitsfront gegen die Nazis sprach. Gewiss, es war eine Utopie und Illusion. Ich sprach im Geiste von Carl von Ossietzky.
Nebenan in den Kammer-Lichtspielen liefen frühe russische Filme und erste Palästina-Filmberichte über Kibbuzim und die Trockenlegung der Huleh-Sümpfe. Mein Weg entlang der Grindelallee und dann durch die Fröbelstraße zur Beneckestraße ist wie in einem surrealen Film: es sind doch die von Kindheit und Jugend her bekannten Straßen, aber ich erkenne sie nicht. Hier in der Beneckestraße wurde ich in der Neuen Dammtor Synagoge 1922 Bar Mizwa. Diese Synagoge wie die vom Bornplatz existieren nicht mehr.
Ich gehe umher wie ein Fremder in einer fremden Stadt. Das Haus Nr. 6 steht noch – wie damals. Auf allen Wegen geht dieses "damals" als mein Schatten mit mir mit. Ich gehe zurück in die Grindelallee. Was soll ich hier? Was und wen suche ich? Ich kenne keinen Menschen aus früherer Zeit. Ich könnte sagen, ich bin auf der Suche nach mir selbst.
Die Welt, durch die ich gehe, ist eine Totenwelt, aber ringsum ist Leben." 6

Aus: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Feb./März 2000; Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

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Anmerkungen

1 Arie Goral-Sternheim, Jeckepotz. Eine jüdisch-deutsche Jugend 1914-1933, Hamburg 1989, S. 81/82 zurück
2 Goral-Sternheim, a.a.O., S. 12  zurück
3 Nachlaß Goral, unveröff. Typoskript, Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung (GOR 002,00,01)  zurück
4 Arie Goral-Sternheim, Ich bin Jude, also bin ich. In: Fremd im eigenen Land. Juden in der Bundesrepublik. Hg. Henrik M. Broder und Michael R. Lang, Frankfurt a.M. 1979, S. 205/6  zurück
5 Arie Goral-Sternheim, Jeckepotz, a.a.O., S. 143  zurück
6 Goral-Sternheim, a.a.O., S. 143/144


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