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Von ferne ins Vergangene
Topologien der Erinnerung bei Arie Goral Von Thomas Dörr
Als der Nachlaß Arie
Goral-Sternheims vor nun bald vier Jahren ins Archiv des Hamburger
Instituts für Sozialforschung gelangte, bestand er zunächst aus nichts
anderem als in rund 120 Kartons verpackten Papierbergen, wie sie im
Laufe der Jahre in seiner Wohnung in Regalen, auf Möbeln und vor allem
auf dem Boden angewachsen waren.
Dort hatte er abgelegt, was ihn beschäftigte und woran er arbeitete,
was ihn umtrieb, ihm der Dokumentierung und der Erinnerung wert schien,
auch was ihm geschenkt und geschickt worden war, um es seinem
Materialfundus und seinen teils wertvollen Dokumentensammlungen
einzuverleiben.
Dabei hatte er in dem Sinne nichts "weggelegt", geschweige denn
"wegsortiert", sondern im Gegenteil die sich anhäufenden
Manuskriptkonvolute, Artikel und Broschüren ihrerseits als neue
Unterlage genommen, um darauf aktuellere Arbeitsvorgänge sich breit
auslegen und vor Augen führen zu können.
Das heißt, er nutzte die Materialstapel um seinen Arbeitsplatz herum
quasi als Tische und ließ nach Beendigung eines Projekts alle
Materialien offen auf ihnen liegen.
Das führte dann dazu, daß die Vorarbeiten zu einem Vortrag
beispielsweise nicht auf einem Stapel beieinander lagen, sondern über
vier, fünf, sechs benachbarte ausgebreitet worden waren, um nach
Abschluß des jeweiligen Vorhabens bald ihrerseits mit neuen Materialien
überschichtet und überbaut zu werden.
Anfangs stellte dieses Verfahren uns im Archiv, die wir Blatt für Blatt
abtrugen, vor nicht geringe Schwierigkeiten, da wir uns zunächst keinen
Reim darauf machen konnten, wieso ein wichtiger Text nach drei Seiten,
in einem Stapel vorgefunden, abbrach, um Tage der Suche darauf in einem
anderen – allerdings auf sozusagen gleichschichtiger Höhe – seine
Fortsetzung zu finden. Die Texte lagen in der gleichen Schicht, aber in
verschiedenen Stapeln.
Man musste also darauf gefasst sein, auch vom – tatsächlich doch –
abwesenden Autor noch nur von Zeit zu Zeit und nach seinem Gutdünken
Einblick in seine Produktion zu bekommen.
So fing er nicht nur auf dem Papier, sondern buchstäblich in und zwischen dem Papier wieder an zu leben.
Hinzu kam, daß Gorals Arbeitsplatz in der Wohnung wanderte, er also,
wenn ein Schreibtisch "fertig" war, zu einer anderen Stelle zog und –
unter Mitnahme der aktuellsten am alten Tisch vorfindlichen Fragmente –
einen neuen "aufmachte": mitsamt neuer Schreibmaschine und neuem
Handapparat an Büchern. Die alte Maschine blieb, wo sie war, Türme von
Manuskripten auf Gehäuse und Tastatur. Manche, die das gesehen haben,
haben gewünscht, daß man dieses Ensemble insgesamt – inklusive rund 50
Regalmeter Bücher und 1.500 Bildern von ihm – bewahren und unter Schutz
hätte stellen können.
Denn auf diese Weise hatte sich in seinen Materialien und quer durch
seinen Wohn- und Lebensraum eine Art von Sedimentierung ergeben,
Schichtungen und Ablagerungen also, wie in von Naturkräften bewegtem
Gestein, nur daß hier nicht Naturkräfte – auch nicht Kräfte der
Geschichte, wenn es sie denn gibt – sondern solche der Arbeit an der
Geschichte am Werk gewesen waren.
Deren Sedimentierungen, also Ablagerungen, Verschiebungen, auch Brüche
und Verkantungen – oft unter großem Druck – waren also für Goral
durchaus nicht nur "Thema" und immer wieder neu aufgegriffener
"Gegenstand" seiner vielfältigen Bemühungen, sondern diese
Sedimentierungen waren ihm ebensosehr Arbeitsprinzip und damit
eigentliches Element seiner Erinnerung, einer Erinnerung, deren
materiale Konfiguration ihn auf diese Weise buchstäblich alltäglich
umgab.
So sprach gerade der zunächst ungeordnet erscheinende Nachlass klar
davon, was die rekapitulierende Rede von der "notwendigen Erinnerung"
immer auch meint, aber nie ganz einholen kann: daß Erinnerungs- und
Alltagsarbeit eins werden.
Arie Goral jedenfalls war dieses Einswerden von Erinnern und Alltag
vitales Arbeits- und Lebensprinzip. Er schichtete ebenso viele Blätter
um und beschrieb neue, entwickelte ständig neue Perspektiven und
Blickwinkel auf die in ihm jedenfalls nicht zur Ruhe kommende
Katastrophe, wie er nach aussen hin als unnachgiebiger und manchen
lästiger Frager in Erscheinung trat.
Das war seine Art und Weise zu fragen, wie man in Erinnerung an das
Unbegreifliche der Vernichtung alltäglich noch praktizieren kann; und
so praktizierte er selber, wonach er fragte:
insistent wie ruhelos grabend, beharrlich wie nachdrücklich erinnernd.
Sein ganzes Selbstverständnis ist von dieser Frage nach der Praxis
umgetrieben, seine Identität nachgerade von der Frage nach der nächst-
und bestmöglichen Aktion bestimmt.
"Wer, wenn nicht ich, wann, wenn nicht jetzt?" war sein Lebensmotto.
Arie Goral selbst ist sich dieses Zusammenhangs von material handfester
Erinnerungsarbeit und uneinholbarem Verlust, der immer neue Anläufe und
Umwege fordert, bewußt gewesen. Er ist sich auch dessen bewußt gewesen,
dass auf diesen Umwegen andere Stimmen als nur die eigene zu hören sind
und mitsprechen. Er hat sich deshalb nicht zum Fürsprecher, sondern –
ohne jeden Beigeschmack von Pathos – zum Medium derer gemacht, die
keine Stimme mehr haben. In seinem Erinnerungsband "Jeckepotz" schreibt
er im Bemühen des Zentrums und Anfangs seiner Bilder vom alten Grindel
inne zu werden:
"Ich gestehe, ich bin auf Umwegen zu dieser Mischpoche
Silberberg-Keitel (einer Familie vom Grindel, TD) gekommen. Ich wollte
meine Geschichte vom Grindel ganz anders beginnen. Ich hatte einen
prächtigen Anfang: mit der Synagoge, mit dem Rabbi Carlebach, und mit
frommen Juden, die wie Geister aus verlorenen und verlassenen
heimatlichen Schtetl in Kaftan und Stremel über den Grindel in ihre
Schul eilten oder vom Gebet kamen.
(Aber:) Ich habe den Anfang verlegt. Er verlor sich im Wust der Papiere und Skripte.
(...) die verlegten Manuskripte haben es so gewollt, nun stehen sie,
die Vergessenen, stellvertretend für die vielen Vergessenen, auch für
die Nebbuchanten (jidd. Habenichtse) vom Grindel, am Anfang meiner Geschichte." 1
– "die verlegten Manuskripte haben es so gewollt, ..." – es gibt keine
einfache und gradlinige Erinnerung mehr, der Weg zu den Vergessenen ist
ein, freilich immer wieder notwendiges, Innehalten zum Umweg – kein
frommer Jude eilt mehr wie früher "geradewegs" im Kaftan über den
Grindel.
Am Anfang seiner Geschichte, dem erwähnten Erinnerungsband Jeckepotz
nämlich, steht freilich auch so etwas wie die drastischere Version
dessen, was manchem in diesem Kontext vielleicht als zu idyllisierend
und quasi "gedenk-bibliophil" daherkommen mag – wo nicht mehr vom
Verlegen und Verlust von Papieren, von umgestapelten Manuskripten und
verlorener Erinnerung allein die Rede ist, sondern wo es
biographisch-politisch konkreter heißt:
"Der 24jährige, der 1933 Deutschland verließ, nahm mit dem Abschied von
seiner Heimat auch Abschied von seiner Kindheit und Jugend, ließ sie
und alles und alle im anbrechenden Chaos zurück. Da lebt auch keiner
mehr, den man aus liebendem Vertrauen fragen könnte:
Hilf mir, wie war das? (...) Es bleibt keine Wahl, ich spreche mit den
Stimmen der Verstummten, mit den Stimmen der Erstickten, mit den
Stimmen der in Viehwaggons im Ratatat des dahinrollenden Zuges
Verröchelnden, ich spreche mit der Stimme von Mutter, von Onkel Max,
von Tante Ida, mit der Stimme Großmutters, die mit 94 Jahren den
Todeszug bestieg, aus dieser Stadt vertrieben wurde, in der ich jetzt
lebe, ich stammle mit deren Stimmen, weil ich nicht schreien kann und
will und mag mit ihren Stimmen und in ihrem Namen. Wer würde schon
hören, in dieser im Moder der Vergessenen und des Vergessens nebligen
Stadt?
Was bleibt, das sind Splitter aus dem großen Gewirr: Schädelsplitter,
Knochensplitter, Gedärmfetzen, Hirnspritzer, Scherben und Fetzen,
Gedankensplitter, Fragmente des verlorenen, zusammengekitteten Ichs. Da
finde nun einer die chronologische Ordnung und erzähle schön sortiert
und der Reihe nach." 2
Diese, wenn überhaupt eine Ordnung, findet angesichts und eingedenk der
eben geschilderten Reihung niemand; auch eine Ausstellung kann nur eine
groben Eindruck davon geben.
"Fragmente des verlorenen, zusammengekitteten Ichs" treten an die
Stelle dessen, was gemeinhin und gutbürgerlich Identität heißt. Auf
einem zunächst getippten, dann handschriftlich bearbeiteten Blatt, das
sich in seinem Nachlass findet, formuliert Goral:
"Ich habe nie von Identität gesprochen, von der Suche nach dieser
Identität. Die Barrieren und Schwierigkeiten beginnen bereits bei
meinem Namen. In Israel nahm ich den hebräischen Namen Goral an, Goral
heißt Schicksal. Bei der Wahl entschied mehr Brahms als mein Schicksal.
Eines Tages wurde beim Malen im Rundfunk das Schicksalslied von Brahms
übertragen. Auf hebräisch schir hagoral. So kam ich zu meinem Namen.
(Und er setzt hinzu:) (...) hat sich was mit Identität, das Problem beginnt schon beim Namen." 3
Der Name Arie Goral also ebenso ein Kunst- wie ein Kampfname, zugelegt,
um abgelegt werden zu können, Siegel der ewigen Exilsituation selbst im
Zuhause der eigenen nominellen Identität, eine Variable, deren Elemente
er im Alter um die Bestandteile ergänzte, die ihm in der Jugend eigen
gewesen waren: Walter Lovis Arie Sternheim Goral steht im Kopf der
Briefbögen, die er in den letzten Lebensjahren benutzte.
Artikel von ihm sind unterzeichnet mit Arie Goral, Arie Goral-Sternheim
oder Sternheim-Goral, Leserbriefe mit Walter Sternheim, sein erster
publizierter Text von 1928 mit Arie Sternheim, seine letzten in der
"Jüdischen Allgemeinen" mit "Kochawi", – "Stern", eine Hebraisierung
der ersten Silbe seines Nachnamens "Sternheim"; andere aber auch
vollends mit Pseudonymen wie Ben Adam, Moritz Bernstein, Siegfried
Abraham oder auch Adam Loewe, wobei sein zweiter Vorname "Lovis", der
"Löwe", nachmalig auch "Arie", hebräisch auch "der Löwe", zum Nachnamen
wurde. Ein Verwirr- und Wechselspiel, wie man so sagt? Kaum – eher: –
Lieber hundertmal signieren als einmal resignieren, und am besten noch
hundertmal verschieden.
So wie er auf diese Weise durch das Vertauschen der kleinsten Zeichen,
der Worte und der Buchstaben nämlich, Zeichen gesetzt hat, bestand sein
vielzitiertes Warnen und Mahnen nicht nur darin, ein ebensoviel
zitiertes "Sehet die Zeichen" zu verkünden oder ein moralisches
"Aufgepaßt, da entwickelt sich was rechts," in die Welt zu posaunen,
sondern darin, in einer auch seinen linken Weggenossen oft
unnachvollziehbaren Weise bei der Deutung und Ausdeutung solcher
Zeichen rigoros zu sein. Seine Analysen waren dabei weder höflich noch
ausgewogen, immer aber einzigartig und eine latente politische
Situation oft konkreter bezeichnend als jedes im Jargon der
Tagespolitik verfaßte Urteil es könnte.
Das heißt nicht, dass er nicht konkret war, wo es not tat, auch darin
ließ er sich in seiner Drastik von kaum jemandem etwas vormachen. Es
heißt aber, dass er subtil war in einer Weise, die quer manchmal selbst
zu aller gebotenen Vernünftigkeit am Rande des Kommunizierbaren lag. So
aber konnte er besser sagen, woher seinem Empfinden nach, und darum
geht es, die Kraft destruktiver Massenphänomenen, die er am eigenen
Leibe erfahren hatte, sich speist.
Ein Beispiel: Auf den Rand der Titelseite einer
Zeitung kritzelte er einmal – wie immer auch spontan motiviert – auf
dem Höhepunkt der Anti-AKW-Demonstrationen Anfang der 80er Jahre
folgende Gelegenheitsnotiz:
"AKW nee (Pfeil -) "Synagoge".

Das bedeutet: in dem ihn, Arie Goral, häufig beschäftigenden Kontext
"Antisemitismus der Linken" speist sich die Emphase der "AKW-nee Rufer"
und insbesondere der Plakettenträger
(der Aufkleber, der Plakate) mit nämlich dem durchgestrichenen Emblem
"Atommeiler" aus dem Impuls gegen die Kuppel der jüdischen Synagoge und
ist also eigentlich, wenngleich ganz anders ausgerichtet, ein sich Bahn
brechender Antisemitismus.
So schießen dem sich Erinnernden die Zeichen zusammen: Eine Masse
stürmt mit Vehemenz gegen eine Kuppel, gegen eine Form mithin, die in
Deutschland ihm und den meist bedrohten Individuen seiner Gruppe
Individualität und Identität immer verbürgt hatte. So las er die
Zeichen, und so warnte er, wo andere "beim besten Willen" noch nichts
Bedrohliches sahen, er aber die Erfahrung gemacht hatte, daß die
Insistenz dieses "besten Willens" die Elterngeneration und viele der
Seinen das Leben gekostet hatte.
Natürlich ist das ungerecht, natürlich ist das übertrieben, und nicht
wenige werden vielleicht sagen, das sei doch unmöglich, so etwas könne
man doch nicht sagen. Jemandem aber, der schon einmal erleben musste,
wie das von den meisten für unmöglich gehaltete erst Möglichkeit und
dann Wirklichkeit wurde, muss man zumindest zubilligen, mit einer
solchen Lesart so etwas wie einen sehr subtilen Analysemodus
nahezulegen; eine Art und Weise der Aufmerksamkeit, die quer selbst zu
aller "Wahrscheinlichkeit" latent irrationale Potentiale aufspürt. Das
zumal, wenn es zum anderen sicher auch provokante Absicht war, durch
Zerstreuung und Verkehrung der Sachbezüge Latenz und Macht variierbarer
Symboliken offenzulegen.
Die Warburg-Schule würde hier von einer "ikonographischen Analogie"
sprechen, und es ist sicher mehr als eine Fußnote, wenn man vermerkt,
daß der junge Walter Sternheim als seine prägenden Einflüsse in den
20er Jahren die Studien in der Warburg-Bibliothek in der Heilwigstraße
angibt. Immerhin auch hat er an der hiesigen Universität zu eben der
Zeit Vorlesungen bei dem renommierten Kunsthistoriker Panofsky,
Mitarbeiter Aby Warburgs, gehört. Es steht also zu vermuten, daß er
wußte, was er tut – dieser Bezug ist, sowenig wie das Verfahren, Zufall.
Viele seiner zahllosen Selbstreflexionen umkreisen das Thema der
variierbaren Symboliken und ihrer "Bemächtigung" durch Sinn. Goral
mobilisiert damit auch so etwas wie psychoanalytische Aspekte einer
gebotenen anderen Erinnerungskultur, wenn er Zeichen der Gegenwart im
Licht vergangener Erlebnisse zu begreifen versucht, um dort, wo eine
katastrophale Zerstörung fast nichts mehr gelassen hat, überhaupt
wieder leben und agieren zu können. Er hat das gekonnt, aber nur nach
und vermittels dieser permanenten selbstreflexiven Durchgänge, die sich
– und vor allem den anderen – nichts ersparten.
Nicht zuletzt schließlich ist dieses Vermengen, Zersetzen und
Remontieren von Erlebtem und symbolischen Versatzstücken ein legitimes
Verfahren – jedweder Kunst nämlich.
Darin auch besteht, so denke ich, jenseits von irgentwelchen
Manifestationen und Proklamationen die Verbindung zwischen seiner Kunst
und seiner Politik, seiner Art und Weise der Erinnerung und der ihr
gemäßen – oder auch nicht gemäßen – Form des Protests.
In dieser Verbindung von Kunst und Politik, von künstlerischer Praxis
und von praktischem Künstlertum, begriff er seine Verantwortung.
Die Vehemenz, mit der er ihr gerecht zu werden versuchte, verglich er
selber gelegentlich mit der Wirkung zweier großer Kunstfiguren wie Don
Quichotte und Michael Kohlhaas, dem Gerechtigkeitsfanatiker und dem
Reiter gegen Windmühlen. So schreibt er 1979 in einem Sammelband zum
Thema "Juden in der Bundesrepublik" unter dem Titel "Ich bin Jude, also
bin ich":
"Ich lebe mein Judesein in Deutschland in einer auch mir selbst oft
lästig werdenden Protesthaltung. Ich besitze genügend Selbstironie und
-kritik, um zu spüren, wie diese Haltung bisweilen nicht ohne
Tragikomik ist, wenn sie nicht gar dann und wann an der Grenze des
Grotesken steht. Die Übergänge, ich weiss es, sind fliessend.
Dem Don Quichotte und Michael Kohlhaas in mir gesellt sich der hinzu,
den ich Siegfried Jeckepotz nenne, der von seinem Judesein nicht
wegwill und sein "gelobtes Land" Deutschland nie erreicht." 4
Deutschland nennt der ironisch sein "gelobtes Land", der in ihm in den
20er Jahren den besten und lebendigsten Teil seiner Jugend in der
jüdischen Jugendbewegung und hier am Grindel verlebte. Einer
Jugendbewegung, die von ihrem wirklichen "gelobten Land" nicht nur
träumte, sondern sich durch landwirtschaftliche Schulung auf die
Auswanderung vorbereitete und schließlich auch Ernst mit ihr machte.
Ernst machen mußte, um aus der "Heimat" vertrieben in der Heimat
Palästina anzukommen, die nach der Erfahrung der Vertreibung freilich
nie ganz eine sein konnte. "Meine Heimat, mein Exil" notiert Goral so
prosaisch wie vieldeutig auf ein Notizblatt, da er aus der Heimat des
notwendigen Exils ins Exil der Heimat zurückkehrt, ohne, wie er selbst
immer wieder betont, je anzukommen.
Von ferne ins Vergangene gekommen, trifft er niemanden mehr an, den er,
wie er selber sagt, "in liebendem Vertrauen fragen könnte, – hilf mir,
wie war das damals." Wenn er heute über den Grindel gehe, so schrieb
Arie Goral-Sternheim in seinem Erinnerungsband "Jeckepotz", sei er auf
der Suche nach etwas, von dem er wisse, daß es unauffindbar bleibt.
"Wir alle," so präzisiert er paradox, "sind nicht mehr da": 5
dieses wiedergängerische Motiv, das ihn seit seiner Rückkehr nach
Hamburg umgetrieben hat, markiert dennoch gerade die Insistenz seiner
Wirkung in der Stadt und bestimmt die Gestalt, als die er den meisten
vor Augen geblieben ist.
Die Topographie dieses ehemals jüdischen Viertels, in dem Arie Goral in
den 20er Jahren wie von den 50er bis in die 90er wirkte, blieb für ihn
durch die Unmöglichkeit einer Rückkehr geprägt, deren Notwendigkeit er
sich erinnernd dennoch immer wieder konfliktreich vergegenwärtigte. So
ist die gegliederte Geschichte seiner Biographie auch eine Geschichte
des Ortes und seiner Zerstörung, die sich ihr eingeschrieben hat. Sie
darzustellen, verschränkt die Geschichte seiner Rückkehr mit den
Erfahrungen des Exils, als dessen Wiederauflage er schließlich sein Tun
an den ihm entfremdeten Stätten seiner Jugend empfand.
Von diesen zeigt die Ausstellung:
Eine Karte des alten Grindel mit Bildern von wunderschönen
Strassenzügen und eine Karte des neuen mit Bildern von meist
Straßenschildern.
Die prächtigen Fassaden zweier Synagogen, die keine 150 Meter
auseinanderlagen und vom vitalen sozialen Umfeld der verschiedenen
jüdischen Gruppen einen Eindruck geben, und das weggeplante Gelände der
ehemaligen Beneckestraße, über dessen Neubauplänen mit erhobenem Stock
Karl Schiller, damals Rektor der hiesigen Universität, Perspektiven für
die Neubebauung demonstriert: vor ihm und den Planern die Bauten, die
sich uns heute zur vertrauten Silhouette des Univiertels gruppieren.
Seinen ersten Gang durch den Grindel nach dem Krieg rekapitulierend
schrieb Arie Goral:
"Wir Juden, die einst das Leben und das Gesicht dieses Stadtbezirks
prägten, wir alle sind nicht mehr da. Auch ich, der ich wiederkam, bin
nicht da und nicht hier, gehöre nicht mehr dazu.
1953 ging ich das erste Mal wieder die Grindelallee entlang. Ich
erinnerte mich zuerst an das Café Timpe, dann an das Kino nebenan, die
Kammer-Lichtspiele. An der Ecke war das frühere Wilhelm-Gymnasium.
Jetzt ist es der Altbau der Universitätsbibliothek. In der Aula fanden
Parteiversammlungen, auch von jüdischen Parteien vor Gemeindewahlen,
statt.
Gegenüber in der Kellerkneipe "Schinkenkrug" residierte ein
berüchtigter SA-Sturm, der den Grindel terrorisierte und auf Juden
spätabends Jagd machte. Ich erinnere mich an eine Versammlung der SPD,
auf der mein Onkel, der Finanzsenator Max Mendel, und der
Polizeipräsident Adolf Schönfelder sprachen. Als Vertreter eines
sozialistisch-zionistischen Jugendbundes sprach ich in der Diskussion.
Es kam zu einem wüsten Lärm und Tumult, als ich gegen Kommunistenhetze
protestierte und für eine Einheitsfront gegen die Nazis sprach. Gewiss,
es war eine Utopie und Illusion. Ich sprach im Geiste von Carl von
Ossietzky.
Nebenan in den Kammer-Lichtspielen liefen frühe russische Filme und
erste Palästina-Filmberichte über Kibbuzim und die Trockenlegung der
Huleh-Sümpfe. Mein Weg entlang der Grindelallee und dann durch die
Fröbelstraße zur Beneckestraße ist wie in einem surrealen Film: es sind
doch die von Kindheit und Jugend her bekannten Straßen, aber ich
erkenne sie nicht. Hier in der Beneckestraße wurde ich in der Neuen
Dammtor Synagoge 1922 Bar Mizwa. Diese Synagoge wie die vom Bornplatz
existieren nicht mehr.
Ich gehe umher wie ein Fremder in einer fremden Stadt. Das Haus Nr. 6
steht noch – wie damals. Auf allen Wegen geht dieses "damals" als mein
Schatten mit mir mit. Ich gehe zurück in die Grindelallee. Was soll ich
hier? Was und wen suche ich? Ich kenne keinen Menschen aus früherer
Zeit. Ich könnte sagen, ich bin auf der Suche nach mir selbst.
Die Welt, durch die ich gehe, ist eine Totenwelt, aber ringsum ist Leben." 6
Aus: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts
für Sozialforschung, Feb./März 2000; Mit freundlicher Genehmigung der
Redaktion.
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Anmerkungen
1 Arie Goral-Sternheim, Jeckepotz. Eine jüdisch-deutsche Jugend 1914-1933, Hamburg 1989, S. 81/82 zurück
2 Goral-Sternheim, a.a.O., S. 12 zurück
3 Nachlaß Goral, unveröff. Typoskript, Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung (GOR 002,00,01) zurück
4 Arie
Goral-Sternheim, Ich bin Jude, also bin ich. In: Fremd im eigenen Land.
Juden in der Bundesrepublik. Hg. Henrik M. Broder und Michael R. Lang,
Frankfurt a.M. 1979, S. 205/6 zurück
5 Arie Goral-Sternheim, Jeckepotz, a.a.O., S. 143 zurück
6 Goral-Sternheim, a.a.O., S. 143/144
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